Wo beginnt ein „am Weg sein mit Menschen mit Behinderung“?

Ein humanistisches Menschenbild ist die zwingende Grundlage bei der Arbeit mit Menschen mit Behinderung (Foto: Caritas Lackner).

 

Wo beginnt ein „am Weg sein mit Menschen mit Behinderung“? Für die Caritas Tirol beginnt dieser Weg Anfang der achtziger Jahre - ein Zeitsprung von über 30 Jahren. Damals gab es für eine Gruppe Menschen nirgends einen Platz - für Menschen mit Behinderung. Von vornherein als „schulunfähig“ eingestuft und kaum Unterstützung erfahrend, blieb ihnen ein inklusiver Lebensweg größtenteils verwehrt. Geschützte Werkstätten waren zu dieser Zeit noch eine Rarität, in klassischen Werkstätten und Berufen gab es für sie keinen Platz. Menschen mit Behinderung konnten nichts „produzieren“ und so war es ihnen unmöglich einen eigenen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Im Jahr 1986 wurde für eine kleine junge Gruppe von Menschen daher eine Einrichtung in Innsbruck geschaffen: die Tagesstätte der Caritas. Doch der Weg dorthin war eine große Herausforderung, denn die Integration von Menschen mit Behinderung steckte noch in den Kinderschuhen.

 

Anfang der neunziger Jahre gelangte ein wegweisendes Konzept aus Schweden, das sogenannte SIVUS-Konzept, über Umwege nach Tirol und stellte die bisherigen Grundlagen der Arbeit mit Menschen mit Behinderung auf den Kopf: Die Förderung einer sozialen und individuellen Entwicklung sollte durch die Zusammenarbeit in der Gruppe, also durch gemeinschaftliches Handeln erbracht werden. Das bedeutet für den einzelnen, dass er seine Fähigkeiten einbringen kann, er muss Verantwortung übernehmen und kann auch daran wachsen. Dadurch wird die Motivation und das Interesse für die Entwicklung von Fähigkeiten und der Persönlichkeit geschaffen. In der Folge wurden neue Maxime bei der Arbeit mit Menschen mit Behinderung geschaffen. Man ging weg von der Betreuung und hin zur Begleitung; man ging weg von den Defiziten und hin zu den Stärken und Fähigkeiten. Dieses neue Konzept führte das humanistische Menschenbild als Grundlage für das „am Weg sein mit Menschen mit Behinderung“ ein. Es galt, einen neuen Weg zu beschreiten.

 

So schildert es die Sozialpionierin Johanna Heimerl, Leiterin der Caritas Tagesstätte Sillgasse, in ihrem Vortrag zur Veranstaltungsreihe "Was mir Mut macht. Sozialpioniere erzählen aus ihrem Leben" im Haus Marillac Anfang Oktober. Sie und Petra Flieger, ehemalige Sonderschullehrerin und Verbündete im Kampf um Gleichstellung und Barrierefreiheit, stellten und beantworteten sich und den Zuhörern spannende Fragen zu ihrem beruflichen Wirken in der Begleitung von und der Arbeit mit Menschen mit Behinderung.

 

Nachdem das SIVUS-Konzept die Richtung vorgegeben hatte, begann auf dessen Grundlage die Aufbauarbeit. Inhaltliche und strukturelle Veränderungen sowie neue Schwerpunkte bezüglich der Begleitung von und der Arbeit mit Menschen mit Behinderung wurden nach und nach in der Tagesstätte Sillgasse umgesetzt. So wurden die Rahmenbedingungen - Öffnungszeiten, Aktivitäten, Alltagsstruktur etc. - gänzlich an die Bedürfnisse der Besucher/innen angepasst. Zudem sorgte eine gemeinsame Kommunikationsebene dafür, dass sich die Wahrnehmung in der täglichen Zusammenarbeit veränderte und nun die einzelnen Personen mit ihren Stärken und Fähigkeiten sichtbar wurden. Eine Tages- und Wochenstruktur mit verschiedenen inhaltlichen Schwerpunkten, angepasst an die Bedürfnisse der Personen, wurde etabliert und die Teilhabe am Lebensbereich "Arbeit" ermöglicht. Immer wieder sah man sich im Arbeitsalltag mit unvorhergesehenen Lebensthemen wie einer Kurzzeitunterbringung, dem Tod eines Gruppenmitgliedes, Krankheit oder Übersiedelung konfrontiert - Themen, die gemeinsam in der Gruppe bewältigt wurden. Das stärkte das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe und das Selbstvertrauen jedes Einzelnen, erinnert sich Leiterin Johanna Heimerl.

 

Im Jahr 2007 fand der letzte große Umbruch der Caritas Einrichtung statt: Die Tagesstätte übersiedelte in neue Räumlichkeiten und ist seither nach ihrer aktuellen Adresse als Tagesstätte Sillgasse bekannt. Die meisten der Besucher/innen begleiten schon sehr lange den Weg der Einrichtung in Innsbruck und dementsprechend familiär und vertraut ist die Atmosphäre. Auch viele Angehörige kommen gerne. Die Zusammenarbeit mit ihnen ist wichtig, denn sie schafft die Voraussetzung für eine optimale Betreuung und Begleitung der Besucher/innen. Seit ein paar Jahren holt das „Älter werden“ die Gruppe ein und wird zum neuen Thema. Neue Rahmenbedingungen mit neuen Schwerpunkten beim „am Weg sein mit Menschen mit Behinderung“ werden dadurch notwendig. Das Ziel ist, ein Wohnprojekt mit Rahmenbedingungen zu realisieren, die Menschen mit intensiver Behinderung im Alter benötigen. Eine große Herausforderung und ein neuer Lebensabschnitt der Tagesstätte Sillgasse auf ihrem Weg mit Menschen mit Behinderung.

Übrigens: In unserer Tagesstätte sind noch Betreuungsplätze frei.